Leseprobe aus der Kurzgeschichte 'Wilde Tiere':

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as Friedhofsamt der kleinen Gemeinde Bokel lag beschaulich am Rande eines verwunschenen Waldes. Der Friedhof, den es zu verwalten gab, idyllte mit sorgsam getrimmten Buchsbaumhecken und dunkelroten Ballonastern vor sich hin. Dem Herbst modisch hinterher rüsteten Familienangehörige die Gräber pflanzlich hoch, damit der gegnerische Grabnachbar blass aussah. Hier herrschte noch Recht und Ordnung, vor allem dank des städtischen Friedhofsamtes mit vier Beamten. Grabsteine hatten manierlich auszusehen, 150 Zentimeter Höhe nicht zu überschreiten und Inschriften sollten die Würde der Verblichenen wahren. Ob Säufer, Hure oder Beamter, als würdig galt an diesem Ort jeder. Nur tot musste er sein.
   Gebhardt und Schmidt, zwei Herren in gesetztem Alter, schwatzten im Verwaltungsbüro.
   „Schmidt, hast du gesehen? Unsere Damen sind schon wieder gemeinsam auf die Toilette gegangen.“ Gebhardt wiegte den Kopf. Er fand das Phänomen kollektiver weiblicher Toilettengänge unerklärlich. Die vier Beamten und Beamtinnen teilten sich nur ein einziges Örtchen mit zwei Spinden. Rechts die Herren, links die Damen. Ordnung musste sein. Gebhardt hatte daher mitbekommen, dass Frauen sehr oft die Spülung betätigten, um verräterische Knistergeräusche ihrer Monatsbindenproblematik zu übertönen. Wundersame Welt der Frauen. Die städtische Wasserrechnung wollte er lieber nicht sehen – über das duale Pinkeln-Gehen grübelte er allerdings weiter nach.
   Schmidt brummte und runzelte die Stirn.
   „Weißt du, Gebhardt, das stammt noch aus Urzeiten, ist sozusagen historisch.“ Er knabberte an seinem Brillenbügel und sabberte ihn ein. „Also, in der Steinzeit, da war das Pinkeln zu zweit wichtig für die Fortpflanzung. Frauen hatten ihren Zyklus anders als heute, stärker an die Phasen des Mondes gekoppelt.“ Beamter Schmidt lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, verschränkte die Arme. „Die Weibchen hatten ihre fruchtbaren Tage immer bei Vollmond, jedes Mal. Natürlich wollten sie dann einen Mann. Mindestens zwei Weibchen liefen daher los, um paarungswillige Männchen zu finden. Meistens auf einer Waldlichtung.“ Schmidt holte Luft. „Zu zweit zu sein, war sehr wichtig. Denn, wenn eine pullern musste, konnte die zweite Ausschau halten, ob sich ein wildes Tier näherte und die wehrlos Pullernde reißen wollte. So erklärt sich die Kollektivpullerei!“ Er machte eine ausholende Geste mit dem Arm. „Nur so konnte die Menschheit bis heute überleben, Gebhardt.“

   Dieser sah ihn nachdenklich an. „Glaubst du wirklich, dass Frau Adomeit Angst hat, von einem wilden Tier gerissen zu werden?“
   Frau Adomeit sah mit fast fünfzig, grauhaarig, bebrillt und unverdorben aus wie die späte Maria Schell. Schmidt überlegte
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Werden die beiden das Geheimnis lösen? Weiter geht's in Beamte und Menschen ...

Die Literaturinterpretin Rena Larf hat die Story 'Spiegel' gelesen, kostenlos zu hören hier (mp3 / 5,5MB, 12 Min.)

 

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